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Bild: © Pascal Vonlanthen

Artikel aus aqua viva 1/2024

Die aussergewöhnliche Artenvielfalt der Felchen in der Schweiz

Hierzulande lebt eine grosse Anzahl Felchenarten, die weltweit nur bei uns und oftmals nur in einzelnen Seen vorkommen. Diese Artenvielfalt ist für die fischereiliche Nutzung eine grosse Chance, da sie hohe und stabile Erträge ermöglicht. Deren Bewirtschaftung ist aber komplex und Interessenskonflikte zwischen Nutzung und Artenschutz treten auf.

Von Pascal Vonlanthen

Die grossen und tiefen Seen der Schweiz beherbergen eine europaweit einzigartige Vielfalt von derzeit noch 24 Arten, die sich in der Genetik, im Körperbau und in der Lebensraumnische/Lebensraumnutzung unterscheiden. All diese Arten kommen weltweit nur in einzelnen Seen der Schweiz vor. Die Schweiz trägt deshalb eine grosse internationale Verantwortung für die Erhaltung dieser einzigartigen Artenvielfalt. Die Felchen sind aber nicht nur aus der Perspektive des Artenschutzes wichtig. Aus fischereilicher Sicht sind sie sowohl für die Berufs- als auch für die Angelfischerei seit Jahrhunderten von grosser Bedeutung.

Die Anzahl der Felchenarten, die in einem See vorkommen variiert. In kleinen Flachlandseen lebt heute oft nur eine Felchenart – früher beherbergten manche dieser Gewässer jedoch zwei (Sempachersee). In den grösseren und tieferen Alpenrandseen, wie zum Beispiel dem Thunersee, sind es heute noch bis zu sechs Felchenarten (Selz et al. 2019). In den letzten zwei Jahrzehnten wurde in der Schweiz intensiv zum Thema Artenvielfalt der Felchen geforscht. Diese Arbeiten ermöglichten ein besseres Verständnis der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den verschiedenen Felchenarten und der ökologischen und evolutionären Prozesse, die bei der Entstehung und Erhaltung der Arten beteiligt sind. 

Ein wirksamer Schutz dieser Artenvielfalt ist eine Hauptvoraussetzung, um die Vielfalt der Felchen fischereilich nachhaltig nutzen zu können. Die Felchen sind ein Vorzeigebeispiel dafür, wie die Biodiversität Schlüsselfunktionen in Ökosystemen erbringt und dadurch ein wichtiges Nahrungsmittel für den Menschen bereitstellt. Doch wie konnte diese Artenvielfalt überhaupt entstehen?

Eine Karte der Schweiz mit Felchen-Bildern um die Karte herum und Pfeilen auf die Seen, in denen sie leben.
Abbildung 1: Zusammenstellung der in der Schweiz lebenden und ausgestorbenen Felchenarten (in rot). In orange: Populationen einer Art, die lokal (in einem oder mehreren Gewässern) ausgestorben sind. Graphik: © O. Selz.

Entstehung dieser Vielfalt

Die Schweiz wurde nach der letzten Eiszeit vor circa 15 000 bis 20 000 Jahren von Felchen besiedelt. Zuvor war die Schweiz viele tausend Jahre lang fast komplett von Eis bedeckt (Steinmann 1950; Taylor 1999). Genetische Untersuchungen zeigen, dass die heutige Artenvielfalt der Felchen in der Schweiz erst nach der Wiederbesiedlung der Gewässer entstanden ist (Hudson et al. 2011). Die Mechanismen, die zu dieser raschen Artentstehung führten, sind komplex. Im Fachjargon spricht man von ökologischer Artbildung und adaptiver Radiation (Schulter 2001; Rundle & Nosil 2005). Vereinfacht gesagt haben sich die ursprünglichen Arten an unterschiedliche Lebensräume und Nahrungsressourcen innerhalb eines Sees angepasst. Diese Anpassungen führten dazu, dass sie sich durch die natürliche Auslese in der Umwelt und eine strenge Partnerwahl nicht mehr zufällig miteinander fortpflanzten und sich immer stärker voneinander unterschieden. So konnten sie sich mit der Zeit zu unterschiedlichen Arten entwickeln.

Damit eine solche Auffächerung in unterschiedliche Arten stattfinden kann, braucht es bestimmte Umwelt-Voraussetzungen (Vonlanthen 2009). Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn in Seen ungenutzte ökologische Nischen (z.B. Nahrungsquellen, Lebensräume, Laichhabitate) verfügbar sind. Einzelne Arten fressen zum Beispiel fast nur Mückenlarven und Plankton, andere Arten bevorzugen eher grössere Beutetiere wie Würmer und Schnecken. Die nacheiszeitlich von Felchen wiederbesiedelten Seen wiesen eine grosse Vielfalt an ökologischen Nischen auf. Viele Nischen blieben von anderen Fischen unbesetzt. Felchen hatten die Fähigkeit sowohl im Flachwasser als auch im Offenwasser und in grossen Tiefen zu leben und sich dort auch fortzupflanzen. Deshalb konnten sie weite Teile der grossen und tiefen Seen der Schweiz besiedeln und sich innerhalb der einzelnen Seen zu neuen Arten entwickeln.

Taxonomie, eine lange Geschichte

Die dabei entstandenen Felchenarten sind sich im Körperbau und im Aussehen oft sehr ähnlich und daher nur schwer voneinander zu unterscheiden. Dies hat dazu geführt, dass sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten zahlreiche namhafte Fischforscher:innen an der Beschreibung der Felchenarten versucht haben. Die daraus resultierende grosse Anzahl an Publikationen führte oft zu uneinheitlichen taxonomischen Einteilungen. Diese Unsicherheiten erschweren bis heute die Bewirtschaftung und den Schutz dieser Arten.

Diese Situation führte auch dazu, dass in einem Teil der Fachliteratur und somit in der jetzigen Gesetzgebung die verschiedenen Felchenarten gar nicht als Arten geführt wurden. So werden die Felchen zum Beispiel im Anhang 1 der Verordnung zum Bundesgesetz über die Fischerei (VBGF) als Artengruppe (Coregonus spp.) aufgeführt. In der aktualisierten Roten Liste der Fischarten der Schweiz wurde den verschiedenen Felchenarten nunmehr mit einem Anhang, der alle Felchenarten mit Gefährdungsstatus listet, Rechnung getragen (BAFU 2022).

Die neusten Anpassungen der Taxonomie beruhen auf den Arbeiten der letzten Jahre, welche die Felchen des Thuner-, Brienzer-, Vierwaldstätter-, Alpnacher-, Sarner-, Zuger- und Sempachersees nochmals behandelten und dabei auch neue, bisher unbekannte Arten beschrieben haben (Selz et al 2020, Selz und Seehausen 2023). Auch wenn damit noch nicht alle Unsicherheiten in der Taxonomie der Felchen ausgeräumt sind, besteht heute eine fundierte Grundlage, um die Arten erkennen zu können. Darauf aufbauend können Empfehlungen und Massnahmen formuliert werden, um die nachhaltige Bewirtschaftung der Felchen zu verbessern. 

Zwei Tortendiagramme, die die Fänge von Netzfischern und Angelfischern zeigen
Abbildung 2: Fänge der Netzfischer (links) und Angelfischer (rechts) in Schweizer Seen zwischen 2000 und 2017 (Daten www.fischereistatistik.ch).

Felchenfischerei

Die verschiedenen Felchenarten spielen sowohl für die Berufs- als auch die Angelfischerei in allen grösseren Seen der Schweiz eine wichtige Rolle. In der Netzfischerei machen die Felchenfänge schweizweit im Durchschnitt aller Seen 60 Prozent aller gefangener Fische aus. In der Angelfischerei sind es 25 Prozent aller gefangener Fische (siehe Abb. 2). Für die Fischerei in der Schweiz konnte gezeigt werden, dass die Anpassung an unterschiedliche ökologische Nischen und die damit einhergehende hohe Artenvielfalt zu einer höheren Produktivität in artenreichen Seen führt, da mehrere Arten die limitierten Nahrungsressourcen optimal ausnutzen können (Alexander et al. 2017). 

Diese Vielfalt erlaubt gerade auch in der Angelfischerei spannende fischereiliche Momente, sei es nun die Befischung von Albeli (kleine Felchenart) in tieferen Wassern mit der Hegene oder von Balchen (grosse Felchenart) nahe am Ufer mit dem Felchenzapfen. Sie führt aber auch zu Herausforderungen im Fischerei-Management. So ist ein artspezifischer Fang oftmals schwierig, da die Lebensräume und die Grösse der einzelnen Arten überlappen. Der Zweckartikel des Bundesgesetzes über die Fischerei (Art. 1 Abs. 1 Bst. c BGF) fordert, dass eine nachhaltige Nutzung der Fischbestände gewährleistet werden soll. Nachhaltig bedeutet, dass sowohl wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Interessen berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden. Eine fischereiliche Nutzung der verschiedenen Felchenarten soll demnach möglich sein. Diese darf aber die Erhaltung der vorkommenden Arten nicht gefährden. Die neuen Erkenntnisse über die Artenvielfalt der Felchen und die zahlreichen Wissenslücken bezüglich Ökologie und Populationsentwicklungen dieser Arten machen die nachhaltige Bewirtschaftung der Felchen je nach See zu einer komplexen und schwierigen Aufgabe, mit der sich die kantonalen Behörden schon seit Jahren auseinandersetzen und die weiterhin eine Herausforderung darstellt.

Punktdiagramm, das zeigt, dass eine negative Korrelation zwischen Felchenlänge und Besatz mit Felcheneiern zeigt.
Abbildung 3: Korrelation zwischen der Anzahl eingelegter Felcheneier in den Fischzuchten und der erreichten Totallänge der Felchen dieser Kohorte nach vier Jahren im Hallwilersee. Die Daten beinhalten die Jahrgänge 1986 bis 2017. Die Lineare Regression weist einen hoch signifikanten P-Wert (Anova, p < 0.001) auf (Vonlanthen & Polli 2022), was darauf hindeutet, dass der Zuwachs der Felchen mit der Besatzmenge und somit mit dem Konkurrenzdruck zusammenhängt.

Bewirtschaftung

Nebst dem Erlass und der Umsetzung von Schonbestimmungen werden für die Bewirtschaftung Felchen in fast allen Schweizer Seen künstlich erbrütet und anschliessend ausgesetzt. Die Elterntiere werden meistens im Rahmen von Laichfischfängen, die von den Netzfischer:innen durchgeführt werden, lokal gefangen. Der Erfolg dieser Massnahme ist je nach See sehr unterschiedlich. In Seen mit starken Defiziten bei der natürlichen Vermehrung ist der Besatz erfolgreich und ermöglicht eine wirtschaftliche Fischerei. Dies insbesondere in Seen mit Sauerstoffdefiziten wie zum Beispiel dem Hallwilersee. In Seen mit einer guten Sauerstoffversorgung funktioniert die natürliche Vermehrung, weshalb der Besatz, wenn überhaupt, nur geringfügig zum Fang beiträgt (Périat 2023).

Besatz ist demnach in naturnahen Seen aus Artenschutzperspektive nicht notwendig. Im Gegenteil, bei der künstlichen Verpaarung der Fische in der Zucht können unabsichtlich verschiedene Arten miteinander verpaart werden. Zudem wird die natürliche Partnerwahl ausgeschaltet. Beides wirkt sich negativ auf den Erhalt dieser Arten und damit längerfristig auch auf das Ertragspotential der Seen aus.

In Seen mit starken Defiziten bei der Naturvermehrung stellt der Besatz eine Massnahme dar, die es ermöglicht, eine wirtschaftliche Fischerei auf Felchen zu erhalten. Da oftmals fast das gesamte Aufkommen (im Fachjargon: Rekrutierung) von Jungfelchen auf den Besatz zurückzuführen ist, hat dieser auch einen grossen Einfluss auf die Populationsgrössen im See. Am Beispiel des Hallwilersees wird aber ersichtlich, dass auch zu viele Felchen eingesetzt werden können. Zu hohe Besatzmengen können zu einer höheren Konkurrenz innerhalb der Art führen, was wiederum in einem verringerten Wachstum der einzelnen Fische resultiert (Vonlanthen & Polli 2022). Es sollten also nur so viele Fische ausgesetzt werden, wie für eine nachhaltige Fischerei notwendig sind.

Schlussfolgerungen

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die grosse Artenvielfalt eine grosse Chance für die Berufs- und Angelfischerei darstellt, da sie in nährstofflimitierten Gewässern, was Felchenseen natürlicherweise sind, einen höheren Ertrag ermöglicht. Die hohe Artenvielfalt erschwert allerdings die fischereiliche Bewirtschaftung insbesondere die Besatzbewirtschaftung. In Zukunft müssen Schutz- und Nutzungsinteressen noch stärker miteinander abgewogen werden. Für diese Interessensabwägung muss auch das Wissen über die Ökologie der verschiedenen Felchenarten verbessert werden, denn nur so können diese Arten sowohl wirtschaftlich genutzt als auch für zukünftige Generationen erhalten werden.

Autor

Portraitbild von Pascal Vonlanthen sitzend an einem Fluss Portraitbild von Pascal Vonlanthen sitzend an einem Fluss

Pascal Vonlanthen
ist passionierter Fischer und seit 2012 Geschäftsführer des auf Fischökologie spezialisierten Ökobüros Aquabios GmbH. Zuvor forschte er während zehn Jahren an der Eawag in der Abteilung Fischökologie und Evolution über Felchen und leitete das Seenforschungs-Projekt Projet Lac.

Kontakt
Pascal Vonlanthen
Aquabios GmbH
Les Fermes 57, 1792 Cordast

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