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Interview aus aqua viva 3/2024

Aufruf zur Nichteinhaltung des Gesetzes

Seit der Verabschiedung des Stromgesetzes wird in Bern hitzig über das Verbandsbeschwerderecht gestritten. Vielen Politiker:innen ist es ein Dorn im Auge beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Als Präsidentin von Aqua Viva und Nationalrätin steht Martina Munz oftmals im Zentrum der Kritik. Im Gespräch mit Aqua Viva erklärt Sie, warum diese ihr Ziel verfehlt und wie wir den Ausbau der Erneuerbaren wirklich voranbringen.

Das Gespräch führte Tobias Herbst 

Portraitbild von David Bittner

«Wir haben kein Interesse daran, Projekte zu verzögern. Unser Ziel ist es, Natur und Landschaft zu erhalten und dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Gesetze eingehalten werden.»

Martina Munz, Präsidentin von Aqua Viva und Nationalrätin
 

Frau Munz, im Parlament wird aktuell viel über das Verbandsbeschwerderecht gestritten: Welche Forderungen stehen da im Raum?

Aktuell geht es konkret um zwei Vorlagen, die mit grossen Einschränkungen des Verbandsbeschwerderechts verbunden wären, beziehungsweise sind. Denn in der abgelaufenen Herbstsession hat das Parlament bereits die Initiative «Kein David gegen Goliath beim Verbandsbeschwerderecht» von Philipp Matthias Bregy (19.409) verabschiedet. Dabei geht es um die Teilabschaffung des Verbandsbeschwerderechts bei Wohnbauten mit einer Bruttogeschossfläche von weniger als 400 Quadratmetern. Bei solchen Bauten innerhalb der Bauzone haben die Umweltschutzorganisationen kein Beschwerderecht mehr. Selbst bei Wohnbauten im Gewässerraum ist keine Beschwerde mehr möglich. Dies kommt zunächst harmlos daher und so möchten es die Befürworter:innen auch darstellen: «Kleine Wohnbau-Projekte von Privaten müssen keine Beschwerden mehr fürchten.» Aber diese Argumentation fusst auf einer groben Untertreibung: Bauten mit 400 Quadratmetern Geschossfläche sind nicht kleine Vorhaben, es handelt sich um stattliche Villen oder Mehrfamilienhäuser. Zudem kommt die überwiegende Mehrheit, nämlich über 99 Prozent, der Beschwerden gegen solche Bauprojekte nicht von den Umweltschutzorganisationen sondern von Privaten. Die Gesetzesänderung stoppt also nicht die Einspracheflut und geht damit am eigentlichen Ziel vorbei. Verbände können nur Einsprache erheben, wenn das Gesetz nicht eingehalten ist. Die Einschränkung des Beschwerderechtes setzt daher das falsche Signal: Baue frisch darauf los, du musst dich nicht an die Gesetze und Vorschriften halten.

Und um was geht es in der zweiten Vorlage?

Hier geht es um eine Änderung des Energiegesetzes, den sogenannten Beschleunigungserlass (23.051). Das muss man sich wirklich einmal bewusst machen: Am 9. Juni 2024 hat das Volk dem Stromgesetz zugestimmt, damit rasch in erneuerbare Energien und in Energieeffizienz investiert wird. Die Politik konnte bei dieser Abstimmung auf die Unterstützung der Umweltschutzorganisationen zählen, die sich geschlossen für das Stromgesetz ausgesprochen haben. Nun, gerade einmal zwei Monate später, möchten Teile des Parlaments das Energiegesetz dahingehend ändern, dass den Umweltschutzorganisa­tionen das Verbandsbeschwerderecht bei den 16 grossen Was­serkraftprojekten im Stromgesetz entzogen wird, obwohl im Abstimmungsbüchlein explizit dieses Recht zugestanden wurde. Damit würde die Politik den Umweltschutzorganisa­tionen in den Rücken fallen und den Willen des Volkes miss­achten. Es bleibt zu hoffen, dass sich jene Kräfte im Parlament durchsetzen, die den Rechtsstaat noch respektieren.

Wie erleben Sie die aktuellen Diskussionen zu diesen Vorlagen?

Der Ausbau der erneuerbaren Energie ging lange Zeit viel zu langsam. Die Politik schiebt nun diese Verzögerungen den Umweltschutzorganisationen zu, statt die eigenen Versäum­nisse einzugestehen. Solange genügend Erdöl und Gas vor­handen war, wurde relativ wenig in die erneuerbaren Ener­gien investiert. Die Rahmenbedingungen für Solarenergie wa­ren schlecht, Investitionen zahlten sich nicht aus. Die Auslandabhängigkeit war damals kein Thema. Jetzt, seit der Ener­giekrise, soll die Schweiz von heute auf morgen sich selbst mit Energie versorgen. Das ist schlicht nicht möglich. Ich verstehe, dass es einen gewissen Unmut gibt, wenn Grossprojekte durch Um­weltauflagen verzögert werden. Einzelne Projekte, insbesondere Windanlagen, ziehen sich zum Teil über mehr als zehn Jahre. Das darf nicht sein und deshalb bin auch ich eine Befürworterin des Beschleunigungserlasses, aber ohne das Verbandsbeschwerderecht einzuschränken. Sonst entzie­hen wir Natur und Landschaft die Stimme.

Was wäre aus Ihrer Sicht zielführend?

Beim Beschleunigungserlass geht es darum, dass wir Bewilli­gungsprozesse straffen. Wenn man beispielsweise Windturbi­nen baut, dann braucht es eine Rodungsbewilligung für das betreffende Waldstück, eine Bewilligung für den Ausbau einer Zufahrtsstrasse, eine weitere Bewilligung für eine Zuleitung zur nächsten Starkstromleitung usw. Das sind alles einzelne Bewilligungsverfahren, die Zeit kosten und gegen die im Zwei­fel nacheinander Beschwerde erhoben werden kann. Mit dem Beschleunigungserlass sorgen wir nun dafür, dass all diese Ein­zelschritte in einem konzentrierten Plangenehmigungsverfah­ren zusammengefasst werden. Damit wird das Bewilligungs­verfahren deutlich beschleunigt, ohne das Verbandsbeschwer­derecht zu tangieren.  Wichtig ist auch, dass die Gerichte ihre Verfahren für Energieprojekte von nationaler Bedeutung beschleunigen. Sie sollten ihr Urteil in 180 Tagen fällen, indem sie wichtige Projekte priorisieren. Das Nadelöhr sind oft die beschränkten Kapazitäten der Gerichte. Wir von Aqua Viva sowie alle anderen Umweltschutzorganisationen haben kein Interesse daran, Projekte zu verzögern. Unser Ziel ist es, Natur und Landschaft zu erhalten und dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Gesetze eingehalten werden.

Triftsee mit Gletscher im Hintergrund und Hängebrücke im Vordergrund.
Aqua Viva hat Beschwerde gegen den geplanten Stausee im Triftgebiet erhoben.

Vor allem aufgrund der Beschwerde gegen das Trift-Projekt wird Aqua Viva vorgeworfen, wichtige Projekte im Sinne der Energiewende zu verzögern und zu verhindern.

Hierzu muss ich etwas weiter ausholen: Zunächst einmal ist das Verbandsbeschwerderecht kein Vetorecht. Die Umweltschutzorganisationen können nicht einfach sagen, dieses oder jenes Kraftwerk soll nicht gebaut werden. Wir können lediglich die Gerichte dazu auffordern, ein Projekt auf seine Rechtmässigkeit zu überprüfen. Doch am Ende entscheiden natürlich nicht wir darüber, ob ein Projekt gesetzeskonform ist oder nicht, sondern die Gerichte. Deshalb habe ich persönlich nicht nur als Präsidentin von Aqua Viva, sondern auch als Parlamentarierin grosse Mühe mit Einschränkungen beim Verbandsbeschwerderecht. Denn im Parlament machen wir die Gesetze. Wenn wir nun das Verbandsbeschwerderecht einschränken oder in gewissen Bereichen sogar abschaffen, dann ist das quasi ein öffentlicher Aufruf zur Nichteinhaltung des Gesetzes. Das kann doch nicht die Haltung des Parlaments, der gesetzgebenden Behörde sein! 

Und was sagen Sie konkret zum Trift-Projekt?

Das Trift-Projekt ist eines von 15 Wasserkraftwerken, die vom Runden Tisch beschlossen und mit dem Stromgesetz auch im Energiegesetz festgeschrieben wurden. Im Stromgesetz wurde ausserdem noch ein weiteres Projekt dazu genommen – das Wasserkraftwerk Chlus im Prättigau. Dieses Projekt wurde vom Runden Tisch nicht berücksichtigt, weil es keinen relevanten Beitrag zur Winterstromversorgung leistet. Die Wasserkraftlobby hat es jedoch verstanden, dieses Projekt trotzdem ins Gesetz zu schleusen.

Die 15 Projekte des Runden Tischs Wasserkraft waren bei den Verhandlungen noch nicht detailliert ausgearbeitet. Die Auswirkungen auf Natur und Landschaft konnten dementsprechend nicht beurteilt werden. Stand heute kann zum Beispiel niemand sagen, ob die Planung zum Gorner-Projekt die gesetzlichen Vorgaben erfüllt. Deshalb hat man im Abstimmungsbüchlein zum Stromgesetz auch festgehalten, dass das Verbandsbeschwerderecht auch für die erwähnten 16 Wasserkraftprojekte nicht eingeschränkt wird. Wer «Ja» gesagt hat zum Stromgesetz, hat auch «Ja» gesagt zur Beschwerdemöglichkeit der Verbände und befürwortet damit, dass einzelne Projekte auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüft werden.

So ist es auch beim Trift-Projekt. Nachdem das Bundesgericht das Projekt 2020 gestoppt hatte, musste der Kanton Bern dieses neu bewerten. Wir von Aqua Viva haben Beschwerde gegen die Konzessionserteilung eingereicht, weil wir den Eindruck haben, dass die gesetzlichen Anforderungen noch nicht erfüllt sind und die vom Bundesgericht angemahnten Mängel nicht behoben wurden. Insbesondere sind wir der Meinung, dass die Interessenabwägung zwischen Schutz und Nutzen nicht gemäss den gesetzlichen Vorgaben vorgenommen wurde.

Greina-Hochebene mit Flusslandschaft und Bergen
Ohne das Verbandsbeschwerderecht wären Naturjuwelen wie die Greina-Hochebene heute zerstört. © schame87 - stock.adobe.com

Was wären aus Ihrer Sicht die Konsequenzen, wenn es nun zu weiteren Einschränkungen beim Verbandsbeschwerderecht kommt?

Das Verbandsbeschwerderecht ist ein wichtiges Instrument zum Schutz der Natur und Landschaft. Die Beschneidung dieses Rechts wird seit Jahren immer wieder diskutiert, insbesondere wenn gewinnträchtige Projekte verzögert oder gar verhindert werden. Im Umweltbereich erleben wir aber tagtäglich, wie wichtig es ist, auf die korrekte Umsetzung der Gesetze zu achten. Meist sind es nur die Umweltschutzorganisationen, die genau hinsehen. Ohne das Verbandsbeschwerderecht könnten sie die Anwaltschaft der Natur nicht mehr gut übernehmen. Denn erinnern wir uns daran: Ohne das Verbandsbeschwerderecht wären Naturjuwelen wie die Greina-Hochebene, das Laggintal oder das Val Madris heute zerstört. Das Beschwerderecht hat zudem eine präventive Wirkung. Projekte werden grundsätzlich umweltfreundlicher gestaltet, wenn Umweltschutzorganisationen Beschwerde erheben können. Auch deshalb hat sich das Stimmvolk 2008 mit einer Zweidrittelmehrheit für den Erhalt des Verbandsbeschwerderechts ausgesprochen.

Die Herbstsession war Ihre letzte Session. Wie geht es nun für Sie weiter?

Ich werde noch bis Ende November als Nationalrätin im Amt sein. Ab dem 2. Dezember darf ich den Stab an Linda De Ventura übergeben: Eine junge, sehr engagierte Schaffhauser Sozialpolitikerin. Als Präsidentin von Aqua Viva werde ich mich aber weiterhin für den Gewässerschutz engagieren. Diese Aufgabe bereitet mir viel Freude und ich freue mich, dass ich dafür in Zukunft mehr Zeit habe. 

Frau Munz, vielen Dank für das Gespräch.

Martina Munz

sitzt seit 2013 für die SP im Nationalrat und ist seit 2021 Präsidentin von Aqua Viva. Zuvor hat sie als Berufschullehrerin gearbeitet und an der ETH Zürich Agronomie studiert.


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