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Energiepolitik ohne Kompromisse

Was das Volk via Volksentscheid 1975 in der Verfassung und 1991 im Gewässerschutzgesetz verankert hat, will der Nationalrat nun im Hau-Ruck-Verfahren aufheben. Es geht um die gesetzlichen Restwasserbestimmungen, die ein Existenzminimum für die wichtigsten vom Gewässer abhängigen Tier- und Pflanzenarten garantieren sollen. Der Nationalrat will diese nun bei der Neukonzessionierung von Wasserkraftwerken aufheben. Der Zugewinn an Energie würde überschaubar ausfallen, der ökologische Schaden sich weiter aufsummieren und die Biodiversitätskrise speziell in den Süsswasserlebensräumen sich verschärfen.


«Mit den aktuellen Beschlüssen des Nationalrats zum Restwasser, oder zur Aufhebung der Ausgleichspflicht beim Bau von Energieanlagen in BLN-Gebieten riskieren wir eine Energiewende mit maximalem Schaden für die Natur.»

Salome Steiner, Geschäftsleiterin Aqua Viva

Der Nationalrat will die gesetzlichen Restwasservorschriften bei der Neukonzessionierung von Wasserkraftwerken sistieren. Ein entsprechendes Massnahmenpaket zur Energiepolitik wurde gestern mit 95 zu 94 Stimmen verabschiedet. Zwischen 2023 und 2035 stehen neue Konzessionen an für Werke, die insgesamt rund 5000 GWh/a produzieren. Eine Analyse von neuen Konzessionen ergab, dass bei Umsetzung der heute geltenden Restwasservorschriften eine «Minderproduktion» von rund 6 bis 8 Prozent entsteht. Das wären 350 GWh/a oder nur rund 175 GWh/Winterhalbjahr. Eine Sistierung der Restwasservorschriften für die Sicherung dieser Strommenge wäre für viele Gewässer aber gleichbedeutend mit deren Preisgabe als Lebens- und Naturraums.
 
Für den Bau von Wasser-, Wind- und Solaranlagen soll zudem in Landschaften des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) auf die Leistung von Schutz-, Ersatz- und Wiederherstellungsmassnahmen verzichtet werden. Ausserdem will der Nationalrat auch kleineren und weniger bedeutenden Energieanlagen ein nationales Interesse einräumen, sollte das Ausbauziel in der gesetzten Frist nicht erreicht werden. Auch beim Biotopschutz sollen Abstriche gemacht werden: Neu entstehende Gletschervorfelder und alpine Schwemmebenen sollen nach dem Nationalrat vom Biotopschutz ausgenommen werden.
 
Die Gewässerschutzorganisation Aqua Viva verurteilt, dass der Nationalrat den Kompromiss der Kommmission zwischen Schutz- und Nutzinteressen einseitig zugunst der Energieinteressen gebrochen hat. Es scheint, dass der Nationalrat den Naturschutz aus den Augen verloren hat und einen Freifahrtschein für den Zubau von erneuerbarer Energie in der unberührten Natur ausstellt. Der Wegfall der gesetzlichen Restwassermengen, der Ausgleichsmassnahmen sowie das angedachte nationale Interesse für kleine Energieanlagen haben keinen direkten Nutzen für die Energiewende, sondern maximieren lediglich die Gewinne der Energiekonzerne. Mit der grundsätzlichen Freigabe von neu entstehenden Gletschervorfeldern und alpinen Schwemmebenen werden zudem dynamisch Gebiete geopfert, welche sich in Zeiten des Klimawandels zu den letzten Refugien hitzeempfindlicher Arten entwickeln könnten. Mit der Sistierung der gesetzlichen Restwasserbestimmungen masst sich der Nationalrat zudem an, sich über das Volk und die Verfassung zu stellen.
 
Das Massnahmenpaket des Nationalrats muss noch vom Ständerat verabschiedet werden. Aqua Viva fordert den Ständerat dazu auf, diesen Entscheid zu korrigieren und die Interessen der Natur im Blick zu behalten. Denn wenn wir auch noch die letzten natürlichen Landschaften und Rückzugsorte der Natur opfern, wird der Preis der Energiewende eine zerstörte Natur sein.

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