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Bild: © Mary Leibundgut

Gletschervorfelder: Neuland mit vielseitigem Potential

Durch den Gletscherrückzug entstehen junge, ungestörte Lebensräume mit grossem Entwicklungspotenzial, wie sie in der Schweiz selten sind. Ihre Vielfalt, Dynamik und Seltenheit machen sie besonders wertvoll. Doch einige der heute intakten Gletschervorfelder sind durch den geplanten Ausbau der Wasserkraft akut bedroht. 

von Mary Leibundgut

Abb. 1: Als Gletschervorfeld bezeichnet man das Gebiet zwischen dem aktuellen Gletscherrand und den Moränen, die den letzten Höchststand des Gletschers markieren. Bild: zvG

Während dem Höhepunkt der letzten Eiszeit vor rund 24'000 Jahren war ein grosser Teil des schweizerischen Mittellands von den Eismassen von Rhone-, Aare und Rheingletscher bedeckt. Wo sich heute intensiv genutztes Siedlungs- und Landwirtschaftsgebiet ausbreitet, lagen karge Geröll- und Tundraflächen, wie wir sie heute aus dem Alpenraum oder der Arktis kennen. Wenn in der Schweiz von Gletschervorfeldern die Rede ist, sind allerdings jene Flächen gemeint, die seit der letzten kleinen Eiszeit um 1850 eisfrei geworden sind und die heute im Zuge der Klimaerwärmung rasant an Fläche gewinnen.

Vielfalt

Ein schwindender Gletscher hinterlässt eine von vielen verschiedenen Prozessen geprägte Landschaft. Eis und Wasser lagern Moränenmaterial unterschiedlichster Art ab: von fein gemahlenem Sand und Silt über Kies und Geröll bis zu mächtigen Felsblöcken. Verschiedene Gesteinsarten können wild durcheinander gemischt sein. Gross ist auch das Spektrum an Moränenformen: Es können End- und Mittelmoränen, steile Seitenmoränen und kuppige oder wellige Grundmoränen vorkommen. Das fliessende Eis schafft Rundbuckel und Gletscherschliffe. Im anstehenden Fels entstehen Abflussrinnen, tiefe Schluchten und Seebecken. Aussergewöhnlich sind auch die frei fliessenden Gewässer im Gletschervorfeld. Weit verzweigte oder mäandrierende Bachläufe in flachen, weiten Talabschnitten wechseln sich mit canyonartigen Schluchtstrecken, Kaskaden und Wasserfällen ab. Diese Vielfalt an unterschiedlichsten Standortbedingungen ist Voraussetzung für eine grosse Vielfalt an Lebensräumen, die oft auf engstem Raum mosaikartig verzahnt sind. Durch den Gletscherrückzug, der seit rund 170 Jahren vonstattengeht, finden sich innerhalb des Gletschervorfeldes neben jungen auch ältere und reife Pflanzengesellschaften. Dieser Prozess der natürlichen Vegetationsentwicklung (als Sukzession bezeichnet) ermöglicht das Vorkommen einer Vielzahl an Pflanzengesellschaften. Das Spektrum reicht von Schuttfluren, Übergangs- und Rasengesellschaften bis hin zu Gebüsch und Wald. An feuchten Standorten kommen Moos- Rasen, Quellfluren, Wollgras-Bestände oder Flachmoore vor, entlang der Bäche kann sich Auenvegetation entwickeln. 

Dynamik

In Gletschervorfeldern können wir eine grosse Dynamik beobachten, wie sie in unseren intensiv genutzten Landschaften nirgendwo mehr möglich ist. Natürliche Prozesse wie Erosion, Transport, Ablagerung und Umlagerung von Material, Überflutung und Trockenfallen können ungehindert ablaufen und schaffen immer wieder neue Lebensräume. Die grösste Dynamik finden wir in weiten, flachen Talabschnitten, wo das Gletscherschmelzwasser sogenannte Schwemmebenen schafft. Durch sich ständig verlagernde Wasserläufe sind sie einem dauernden Wandel unterworfen. Bei Hochwasser werden Kiesbänke überflutet, Bäche verlegen ihren Lauf, es entstehen trockengefallene Altläufe und Flussterrassen. Ein besonders wichtiges Landschaftselement sind die Gletscherseen und Tümpel, die sich nach dem Rückzug des Gletschers vielerorts bilden. Wo der Gletscherabfluss in den See mündet, entwickelt sich ein Delta, das durch den andauernden Nachschub von Geröll und Kies anwächst und schliesslich zur allmählichen Verlandung des Sees führt. Längerfristig kann sich eine neue alpine Schwemmebene bilden. Besonders schön ist dies derzeit am Triftsee zu beobachten, wo sich die Schwemmebene und das Delta von Jahr zu Jahr vergrös- sern. Neben ihrer landschaftlichen Schönheit können diese Seen auch Gefahren bergen: Es kann zu Gletscherseeausbrüchen und Flutwellen kommen. Die stetigen Veränderungen bewirken auch eine Dynamik der Lebensräume. Die ungestörte Sukzession bis zu reifen Pflanzengesellschaften wird unterbrochen und kann immer wieder neu beginnen. Die Gletschervorfelder sind also in vielerlei Hinsicht einem dauernden Wandel unterworfen.

Abb. 2: Viele Standorte der seltenen Zweifarbigen Segge (Carex Bicolor) wurden in den 1950er-Jahren beim Bau von Wasserkraftanlagen zerstört. Bild: Ragnhild&Neil Crawford

Seltenheit

Man findet in den Gletschervorfeldern zahlreiche Pflanzengesellschaften, welche in der Schweiz selten sind. Dazu zählt die Flusskies-Pionierflur (Epilobion fleischeri), die Alpine Silikatschuttflur (Androsacion alpinae), die Berglöwenzahn- Gesellschaft (Leontodontetum montani) oder verschiedene Feucht- und Trockenstandorts-Gesellschaften. Für die Erhaltung dieser Lebensräume sind die Gletschervorfelder äusserst wichtig. Die grösste Bedeutung hinsichtlich Seltenheit und Schutzwürdigkeit hat allerdings die Schwemmufervegetation alpiner Wildbäche (Caricion bicoloriatrofuscae). Diese Pflanzengesellschaft kommt nur in den Alpen oberhalb von 1600 Meter vor und ist an sandige Schwemmufer entlang von Gletscherbächen und an kühle Temperaturen gebunden. Die namensgebende Zweifarbige Segge (Carex Bicolor) ist im Verlauf der Eiszeiten aus der Arktis nach Mitteleuropa eingewandert. Nach dem Rückzug der Gletscher hat sie sich in die höheren Gebirgslagen zurückgezogen, wo sie bis heute in wenigen, zerstreuten Populationen überlebt. Viele dieser seltenen Standorte wurden in den 1950er- Jahren beim Bau von Wasserkraftanlagen zerstört.

Geschichte und Gefährdung

Die nach dem Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 neu entstandenen Gletschervorfelder waren zu Beginn von geringem wirtschaftlichen Interesse. Lediglich die tiefer gelegenen Gebiete konnten alpwirtschaftlich genutzt werden. Dies änderte sich in den 1950er- Jahren mit dem Ausbau der Wasserkraftnutzung. Priorität hatte damals die wirtschaftliche Entwicklung. Naturschutz war kaum ein Thema und der hohe ökologische Wert der Gletschervorfelder wurde nicht erkannt. Viele der grossen Gletschervorfelder und alpinen Schwemmebenen wurden in dieser Zeit unwiederbringlich zerstört – beispielsweise Grand Dixence, Mattmark, Mauvoisin, Grimsel, Göscheneralp, Zervreila. Auch dem späteren Ausbau der touristischen Infrastruktur fielen einige der wertvollsten Gletschervorfelder zum Opfer (z. B. Vorfeld des Findelgletschers). Erst in den 1990er-Jahren begann sich ein gewisser Widerstand gegen den weiteren Ausbau und die Zerstörung der verbliebenen Gletschervorfelder zu formieren. Beispielsweise konnte der Aufstau der Greina-Hochebene und des Curciusa-Hochtals verhindert werden. In diese Zeit fällt auch die Entstehung des Inventars der Gletschervorfelder der Schweiz (IGLES), welches später ins Aueninventar integriert wurde.

Nachdem in den letzten Jahrzehnten mit wenigen Ausnahmen kaum noch grössere Wasserkraft-Projekte realisiert wurden, könnte sich das Blatt wieder wenden. Im Zuge des Klimawandels und im Zusammenhang mit dem geplanten Atomausstieg rückt der Ausbau der Wasserkraft wieder ins Zentrum des Interesses. Einige der noch intakten Gletschervorfelder sind dadurch akut bedroht - nicht nur in der Trift. Projekte sind unter anderem auch beim Gorner-, Oberaletsch- oder Fieschergletscher geplant. Doch die Schweiz will gemäss dem Aktionsplan Biodiversität nicht nur das Klima, sondern auch die Artenvielfalt schützen. Die Gletschervorfelder könnten durch ihre besondere Vielfalt eine wichtige Rolle beim Erreichen der Schweizer Biodiversitätsziele spielen. In der Realität ziehen sie aber bei der Interessenabwägung zwischen Nutzung und Schutz oft den Kürzeren. 

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