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Bild: © Michal - stock.adobe.com

Was hat die globale Biodiversitätskrise mit der Trift zu tun?

Aqua Viva und der Grimselverein machen auf den unschätzbaren Wert der oftmals vom Menschen noch unbeeinflussten Gewässerlebensräume der Alpen aufmerksam. Diese Landschaften verfügen über ein enormes Potential zum Erhalt der Schweizer Artenvielfalt. Doch unser Energiehunger macht auch vor ihnen nicht Halt. Wir haben jetzt die Chance, der Natur etwas zurückzugeben – stattdessen sind wir dabei, Wesentliches zu verspielen.

Von Martina Munz und Nick Röllin

Martina Munz, Präsidentin Aqua Viva

Nick Röllin, Präsident Grimselverein

In den Alpen liegen die letzten unberührten Gewässerlebensräume der Schweiz. Wilde Bergbäche, dynamische Schwemmebenen, intakte Hochmoore und andere Feuchtgebiete im alpinen Raum sind wahre Hotspots der Biodiversität. Im Furkagebiet auf rund 2500 Meter Höhe haben Wissenschaftler:innen in nur vier Tagen 304 Kleinlebewesen und Kieselalgen im Wasser entdeckt, darunter auch zahlreiche gefährdete Arten. Bei genauerer Untersuchung wären es sicher noch mehr gewesen (Hiltbrunner & Körner 2018). Trotzdem geraten diese Flächen immer stärker unter Druck.

Die Wasserkraftlobby schielt auf die durch den Gletscherschwund entstehenden Bergseen und versucht, einen Keil zwischen den Klima- und Artenschutz zu treiben. Doch Klima- und Biodiversitätskrise beeinflussen sich gegenseitig und lassen sich auch nur gemeinsam lösen. Umgekehrt sind es vor allem wirtschaftliche Interessen, die sowohl die Klima- als auch die globale Biodiversitätskrise beschleunigen. In den Alpen wird dies aktuell sichtbar. Und die Trift steht exemplarisch für diesen Konflikt.

Global denken

Ein globales Netzwerk von Wissenschaftler:innen warnt vor den Folgen einer menschengemachten Naturkatastrophe. Sie verfassen Berichte und mahnen dazu an, endlich zu handeln. Auf Grundlage der wissenschaftlichen Ergebnisse setzen sich Politiker:innen aus der ganzen Welt Ziele, die sie ein ums andere Mal verfehlen. So bekannt uns all dies auch vorkommen mag, die meisten Menschen wissen bislang nur wenig darüber. Denn wir sprechen hier nicht vom Klimawandel und dem Weltklimarat, sondern vom globalen Artensterben. Dieses Jahrhundertthema ist bislang nur eine Randnotiz in der öffentlichen Berichterstattung und auch in der Politik.

Das IPBES, der Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nation, ist das Pendant zum Weltklimarat (IPCC). Rund 150 Wissenschaftler:innen haben sich darin zusammengeschlossen, um über den Zustand der globalen Biodiversität zu berichten. In ihrem letzten Bericht von 2019 bescheinigen sie dieser einen dramatisch Zustand (IPBES 2019): Etwa eine Million Arten gehen dem Aussterben entgegen, viele davon schon innerhalb der nächsten Jahrzehnte. Alarmierend ist beispielsweise der Rückgang der Insekten-Biomasse: Diese ist in zehn Jahren im Wald um etwa 40 Prozent zurückgegangen, auf den Wiesen gar um zwei Drittel (Seibold et. al 2019).

Die wichtigste Triebkraft dieser sich abzeichnenden Katastrophe sieht das IPBES in Veränderungen der Land- und Meeresnutzung. 75 Prozent der globalen Landoberfläche hat der Mensch nach seinen Vorstellungen umgestaltet und über 85 Prozent der Feuchtgebiete sind bereits verloren gegangen (IPBES 2019). Viele Populationen von Tieren und Pflanzen sind derart dezimiert, dass sie auch dann aussterben, wenn wir sofort eine Kehrtwende vollziehen.


«Wenn wir Naturjuwelen wie die Trift verplanen, ohne deren Potential für die Artenvielfalt auch nur zu kennen, verlieren wir die zukünftig letzten Rückzugsräume der Biodiversität.»


Lokal handeln

Was hat dies nun mit der Schweiz, den Alpen und im Speziellen mit der Trift zu tun? Auch die Biodiversität in der Schweiz befindet sich in einem besorgniserregenden Zustand. Mehr als ein Drittel aller untersuchten Arten ist bedroht, die Fläche wertvoller Lebensräume ist stark geschrumpft und regionale Besonderheiten gehen verloren (BAFU 2019). Obwohl Fliessgewässer und ihre Auen als die artenreichsten Lebensräume der Schweiz gelten, leidet kein anderer Lebensraum derart unter uns Menschen. Seit 1850 sind 90 Prozent der Auenflächen verloren gegangen (BAFU 2017) und nur noch rund fünf Prozent des Gewässernetzes gelten als intakt (WWF 2016). Über ein Fünftel der vom Aussterben bedrohten oder in der Schweiz ausgestorbenen Arten sind an Gewässer gebunden, ein weiteres Fünftel an Ufer und Feuchtgebiete (BAFU 2017).

Der menschengemachte Klimawandel wird das Artensterben in und entlang unserer Gewässer noch verschärfen. Mit dem klimabedingten Abschmelzen unserer Gletscher werden Flächen frei, die Raum für eine unberührte Entwicklung der Natur bieten. In Senken entstehen Seen, längerfristig Flachmoore. Am Einlauf durchflossener Seen bilden sich Deltas und insbesondere in den flachen Überflutungsbereichen entstehen Flächen mit Auencharakter. Wie alle Auenformen bieten solche Schwemmebenen ein enormes Potential für eine grosse Artenvielfalt. Sie schaffen wieder mehr Raum für Tiere und Pflanzen und bieten hitzeempfindlichen Arten Rückzugsräume. Es wäre die Möglichkeit, der Natur wieder etwas zurückzugeben.

Eine aktuelle von Pro Natura in Auftrag gegebene Studie (geo7 2020) hat das Potential aller grösseren, eisfrei werdenden Gletschergebiete in der Schweiz hinsichtlich des Werts für die Biodiversität untersucht. Rund 500 Gebiete wurden genauer unter die Lupe genommen. Der Triftgletscher ist dabei eines von sechs Gebieten mit dem höchsten Entwicklungspotential. Das ausgerechnet hier nun ein Kraftwerk entstehen soll, zeigt wie gefährlich und unüberlegt dieses Projekt für die Biodiversität ist. Wenn wir Naturjuwelen wie die Trift verplanen, ohne deren Potential für die Artenvielfalt auch nur zu kennen, verlieren wir die zukünftig letzten Rückzugsräume der Biodiversität.

Für eine artenreiche Zukunft

Die globale Biodiversitätskrise, das Artensterben in und entlang der Gewässer und das riesige Potential der Alpen mit ihren unberührten, vielfältigen und dynamischen Lebensräumen – dies sind viele Gründe, um endlich den Schutz über die Nutzung zu stellen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass wir bereits 95 Prozent des Wasserkraftpotentials ausgeschöpft haben und nur noch über rund fünf Prozent ungenutzter Gewässer verfügen. Doch angesichts der drohenden Winterstromlücke wird suggeriert, dass der Bau neuer Wasserkraftanlagen alternativlos sei – egal wie wertvoll die dafür notwendigen Flächen auch sein mögen. Dabei gibt es längst Wissenschaftler:innen und Technologien, die Alternativen aufzeigen (Rechsteiner 2019). Wenn wir auch die letzten natürlichen Landschaften und Rückzugsorte der Natur verbauen, stellt sich allerdings die Frage, welche Alternativen uns noch bleiben, um das Artensterben zu stoppen. Denn nur wenn uns dies gelingt, können wir zukünftigen Generationen eine lebenswerte Welt hinterlassen.

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